Landschaft, Mensch und Abstraktion
Alfred Lehmanns Malerei der unmittelbaren Nachkriegszeit nimmt zunächst die
Themen der 20er und 30er Jahre wieder auf: Es entstehen vor allem
Landschaftsbilder. Dazu einige Porträts und wenige Stillleben. Ende der 40er
und Anfang der 50er Jahre setzt der große thematische Umschwung ein: Die
Figurengruppen der "Existenzbilder" gewinnen überragende Bedeutung im Werk
Alfred Lehmanns.
Die Landschaftsgemälde
Gärten, Stuttgart im Panorama, Waldbilder: das ist das thematische Spektrum der
Lehmannschen Landschaftsmalerei in den 40er und frühen 50er Jahren. Die eher
gedämpften Farben der Bilder knüpfen an die Werke der 20er Jahre an. In den
Waldbildern, die Lehmanns Werk um ein neues Element bereichern, zeigt sich
einmal mehr der Einfluss Cézannes.
Waren die früheren Landschaftsbilder vor allem durch ein variantenreiches
Gewebe von Pinselstrichen charakterisiert, greift Lehmann jetzt auf eine neue
Technik zurück: Unterschiedlich geformte Farbflecken und Farbflächen mit
zahlreichen Nuancen werden nebeneinander gesetzt und schaffen Bilder, in denen
es zwar klare Farbwechsel aber oft keine eindeutigen Übergänge zwischen den
abgebildeten Gegenständen gibt. Relativ handfeste gegenständliche Präsenz
zeigen lediglich die Baumstämme, die die Bildfläche – vor allem in der
Senkrechten – gliedern.
Das Kunstkonzept Alfred Lehmanns tritt auch bei diesen Landschaftsbildern
deutlich zu Tage: Das Motiv in der realen Welt versorgt den Maler zwar mit
bestimmten Formen (von Baumkronen, Ästen, Felsen, Höhenzügen, Häusern...), die
Komposition jedoch ist Sache des Künstlers. Wirklichkeit wird nicht abgebildet.
Sie wird im Geist des Malers und mit den Mitteln des Malers neu
geschaffen.
Die Existenzbilder
Bis in die späten 40erJahre tauchen Figurengruppen lediglich in Lehmanns
Zeichnungen und Aquarellen auf. Anfang der 50er Jahre werden diese
Figurengruppen zu einem dominierenden Genre in Lehmanns Malerei.
"Existenzbilder" nennt Lehmann diese Gemälde – und das mit gutem Grund. Denn
keine der abgebildeten Figuren hat individuelle Züge, die sie umgebende
Szenerie ist, ganz im Gegensatz zu Lehmanns Freilichtlandschaften, unter
"Laborbedingungen" im Atelier entstanden und es wird auch keine Geschichte
erzählt. Was man sieht, ist die "pure Existenz"! Der Kunsttheoretiker Kurt
Leonhard:
"Lehmanns Existenzbilder bauen geschlossene Kulträume. In der begrenzten Fläche
bieten sie der Meditation des aufmerksamen Betrachters den zeitlosen
Allgemeinbezug gesichtslos, geschlechtslos, meist sogar körperlos … entspanntes
Dasein, veritable Gegenwelt aus Fleckenstrukturen und Liniengerüsten … Keine
Personen aus irgendeiner irdischen Realität, sondern beinahe schon platonische
Ideen möglicher Menschen…"
In den Existenzbildern spiegeln sich zwei Themen wider, die Lehmann in den 50er
Jahren beschäftigen: Die Rolle des Menschen in der Welt – und die Bedeutung der
Abstraktion in der Kunst.
Das Motiv "Figuren in Landschaft" gibt Lehmann die Chance, mit Farb- und
Formgegensätzen zu spielen: Gelb-Ocker-Braun der Körper versus gegenstandslosen
Farbenreichtum der Umgebung. Horizontale Ausrichtung der Figur versus flächige
Gestaltung der Natur. In den späteren Existenzbildern sorgen schwarze Konturen
für eine noch deutlichere Strukturierung.
Die Existenzbilder sind ein Versuch Lehmanns, Gegenständlichkeit und
Abstraktion zu vereinen: Der Künstler als Vermittler ganzheitlicher Wahrheit!
Alfred Lehmann schreibt dazu: "Die Trennung zwischen Ding und Form ist dann
beim Beschauer nicht mehr vollziehbar, ist es doch nicht mehr das Wirkliche,
sondern das Geist-Ding als Figuration, als Teil der Fläche, des geistigen
Feldes, das im Bild die Trennung verbietet."