Der Wirbel der Bewegung
In den 50er Jahren verbringt Alfred Lehmann viel Zeit in Paris. Er lässt sich
vom einzigartigen künstlerischen Ambiente der Stadt inspirieren, lernt die
Reize der Seine-Metropole aber auch von einer ganz anderen Seite kennen.
Wie die Impressionisten, die den leicht verruchten Glanz des Pariser
Nachtlebens einst für die Kunst entdeckten, ist auch Alfred Lehmann von der
Welt der Pariser Varietés fasziniert. Der Maler und seine Frau verbringen so
manchen Abend im "Casino de Paris". Und aus den Eindrücken dieser Abende, die
Lehmann vor Ort auf kleinen Skizzen festhält, entwickelt sich eine ganz
spezielle Facette des Lehmannschen Werks: Die Revuetanzbilder – durchweg
entstanden im Jahr 1957.
Diese Bilder sind anders als die übrigen Gemälde Alfred Lehmanns: Sein ganzes
Leben hindurch versucht der Künstler, die Natur und das Wesen des Menschen eher
"meditativ" zu erkunden. Wie einst Cézanne nimmt er sich Zeit, die Welt zu
betrachten, und bringt anschließend sein "Weltbild" auf die Leinwand. Gemalt
werden vor allem die zeitlose Natur oder – wie in den Existenzbildern –
zeitlose Menschen.
Und die Revuetanzbilder? Was für ein Kontrast! In diesen Bildern herrscht
wirbelnde Bewegung. Ein kaum durchdringbares Gewirr von Einzelelementen lässt
den Betrachter vergeblich nach einem festen Orientierungspunkt suchen: Keine
Chance für Kontemplation und ruhiges Nachdenken über das Sein. Wer vor Lehmanns
Revuetanzbildern steht, ist in einer ähnlichen Position wie die markante,
gestreifte Figur des Tanzpaars in der Mitte der dargestellten Szene: Er wird
umringt, bestürmt von mannigfaltigen Eindrücken, die nur schwer zu verarbeiten
sind.
Dennoch: Die Revuetanzbilder Alfred Lehmanns sind alles andere als spontaner
Emotionsausbruch des Künstlers. Lehmann geht sehr reflektiert an diese Bilder
heran. Die Gemälde werden begleitet von verschiedenen Studien auf Papier, mit
denen der Künstler das Thema umkreist. Und Lehmann wäre nicht Lehmann, wenn die
Revuetanzbilder nicht auch in formaler Hinsicht Bedeutung hätten. Das
turbulente Geschehen im "Casino de Paris" bietet die willkommene Gelegenheit,
ein grundsätzliches Problem der Malerei anzugehen: Wie lassen sich konträre
Elemente wie Figur, Fläche und Bewegung durch die Mittel des Malers in Einklang
bringen?
Das heißt: Die Revuetanzbilder sind, so expressiv sie auch wirken mögen,
sorgfältig durchdachte künstlerische Arbeiten, in denen Lehmann "technisch"
weiterzukommen versucht – unter anderem mit der Konsequenz, dass seine
Existenzbilder in der Folge der Revuetanzdarstellungen einen höheren Grad an
Dynamik erhalten. Thematisch bleiben die Revuetanzbilder jedoch einzigartig in
Lehmanns Werk – und ganz auf die Pariser Zeit beschränkt. Nach seiner Rückkehr
aus Paris greift Lehmann dieses oder ähnliche Themen nie wieder auf.