"Ich habe an der Akademis nichts gelernt"

1915 verlässt Alfred Lehmann die Realschule. "Mittlere Reife" bescheinigt ihm das Zeugnis und er hat Pläne, die nur wenig mit seiner späteren Karriere zu tun haben: Er will Offizier werden. Das Vorhaben scheitert jedoch an mangelnder mathematischer Begabung (Lehmann schafft das Abitur nicht) – und so folgt der 17-jährige seinem Schulfreund und Orientierungspunkt Manfred Pahl 1916 auf die Akademie. Nur wenig später kommt die Einberufung und kurz vor Kriegsende eine schwere Verwundung. 1919 schließlich kehrt Lehmann in bewegten Zeiten wieder an die Akademie zurück: Die ernsthafte Auseinandersetzung mit der Kunst kann beginnen!
 

Bewegte Zeiten

Die unmittelbare Nachkriegszeit verläuft an der Stuttgarter Akademie – wie überall in der Gesellschaft – turbulent: Es tobt ein Streit um die Nachfolge des 1918 zurückgetretenen Adolf Hölzel. Regelrechte "Sponti-Aktionen" finden statt. Paul Klee ist im Gespräch, wird von Verfechtern der Moderne – etwa Oskar Schlemmer – vehement unterstützt, kann sich aber nicht durchsetzen. Es gibt avantgardistische "Herbstschauen neuer Kunst". Die "Stuttgarter Sezession" tritt mit kubistischen, expressiven und neusachlichen Tendenzen auf den Plan. Und 1924 ruft eine Ausstellung "Neue deutsche Kunst" Unheil verheißende Aggressionen bei den Hütern "gesunden Volksempfindens" hervor.
 

Die Lehrjahre Alfred Lehmanns

Alfred Lehmann selbst exponiert sich nicht in diesen aufregenden Tagen (inwieweit ihn die Ereignisse überhaupt bewegt haben, ist nicht bekannt). Seine Lehrer an der Akademie sind Christian Speyer (Zeichenklasse) und Christian Landenberger (Malklasse) sowie der Schweizer Heinrich Altherr, der mit seinem expressiv figürlichen, gelegentlich auch symbolistischen Stil in der "Stuttgarter Sezession" eine führende Rolle spielt.
 
"Ich habe an der Akademie nichts gelernt" ist zu einem geflügelten Wort aus dem Zitatenschatz Alfred Lehmanns avanciert. Der junge Maler hält künstlerisch Distanz zu seinen Professoren (etwa Altherr) und sucht stattdessen außerhalb der Akademie Inspiration: bei Philosophie -, Literatur- und Kunstgeschichtsvorlesungen der Technischen Hochschule, bei Privatvorlesungen Adolf Hölzels (der für Lehmann erst in den späten 40er Jahren erkennbar Bedeutung erlangen wird) und bei den Bildern von Hans von Marées und Cézanne.
 

Die Figurenkomposition "Der Abend"

Eines der frühesten Werke Alfred Lehmanns ist die "Figurenkomposition – der Abend" aus dem Jahr 1920. Man sieht vier Akte, die in einer Gewässerlandschaft gruppiert sind. Die sehr ruhige Farbgebung des Bildes (die auch die Lehmannschen Landschaftsdarstellungen der 20er Jahre prägt) ist lediglich durch eine rote Dreiecksform – offensichtlich ein Handtuch – unterbrochen. Auf eine individuelle, etwa physiognomische Charakterisierung der Personen hat der Maler vollständig verzichtet.
 
Autobiografischer Hintergrund des Bildes sind ohne Frage die vielen Stunden, die Lehmann mit seinen Künstlerfreunden im "alternativ" angehauchten Stuttgarter Ricklibad verbracht hat. Die Vorbilder Marées und Cézanne spielen hinein. Und auch die Idee eines antik-arkadischen Lebensgefühls, die den jungen, über Gott und die Welt philosophierenden Künstlern am Ufer des Neckars unweigerlich in den Sinn gekommen ist.
 
Im Frühwerk Lehmanns kommt dieser Figurenkomposition eher eine Ausnahmestellung zu. Sie nimmt jedoch klar erkennbar die Thematik der Figurengruppen vorweg, die Lehmanns Werk unter dem Überbegriff "Existenzbilder" nach dem 2. Weltkrieg prägen werden.
 

Das "Parkbild"

Ein charakteristischeres Thema für den jungen Lehmann ist die Landschaft. Das "Parkbild" entsteht im Jahr 1922 und lebt vor allem von Gegensätzen: Gebäude und Natur. Geometrie (die Form des Hauses) und freie Form. Tiefes Grün und helles Grau. Welches konkrete Haus, welcher konkrete Park gemeint ist – wen interessiert das! Allgemeingültige Grundstrukturen, "Ideen" – darum geht es in diesem Bild. Und auch im künftigen künstlerischen Wirken des Malers Alfred Lehmann.
 

Das Ende der Akademiezeit

1923 verlässt Alfred Lehmann aus Geldmangel die Akademie und wird selbst zum Privatlehrer für Kunst und Kunstgeschichte. Die Chance, seine Bilder auszustellen, hat Lehmann während seiner Akademiezeit und auch in den Jahren danach nicht. Ins Bewusstsein der Öffentlichkeit tritt der Maler nach Gründung der "Stuttgarter Neuen Sezession".