Etablierung und Experiment
In seinen letzten beiden Lebensjahrzehnten ist Alfred Lehmann eine feste Größe
in Stuttgarts Kulturlandschaft – als Künstler, als Kunstexperte und sogar in
der Kulturpolitik. Doch mit Stillstand hat diese Etablierung nichts zu tun. Der
Mensch und Maler Alfred Lehmann bleibt ständig in Bewegung: Er reist,
reflektiert, diskutiert – und vor allen Dingen: Er experimentiert. Farben,
Formen, Bildkomposition: Diese Aspekte gewinnen noch mehr Eigenwert als früher.
Die Gegenstände treten noch weiter in den Hintergrund. Zum "Gegenstandslosen"
wird Lehmann dabei allerdings nicht. Und auch die beiden zentralen Themen –
Figurengruppen und Landschaftsbilder – behalten ihre dominierende
Stellung.
Was Lehmann sucht, sind neue Wege, diese Themen zu durchdringen.
Eine anerkannte Persönlichkeit
Allein ein Blick auf die Jahre 1959 und 1960 zeigt: Alfred Lehmanns Werk und
Alfred Lehmanns Meinung haben Gewicht in seiner Heimatstadt Stuttgart. Lehmanns
60. Geburtstag wird 1959 mit einer Einzelausstellung in der Stuttgarter
Staatsgalerie gewürdigt. 1960 kann der Maler bereits seinen dritten Auftrag für
ein Wandbild in einem öffentlichen Gebäude in Angriff nehmen (eine
Figurenkomposition für die Stuttgarter Berufs- und Fachschule im Hoppenlau).
Und im gleichen Jahr wird der Maler in den Kulturausschuss der
baden-württembergischen Landeshauptstadt berufen. 1963 trägt Lehmann mit einem
umfangreichen Spektrum an Gemälden zur zweiten Ausstellung der "Freien Gruppe
Stuttgart" bei. Darüber hinaus macht er sich über lange Jahre durch Führungen
in der Stuttgarter Staatsgalerie einen Namen, begleitet Reisen des
Württembergischen Kunstvereins, unterrichtet Schüler – und arbeitet intensiv an
der Fortentwicklung seiner eigenen Kunst.
Die Zielsetzung von Lehmanns Kunst
Die Gegenstände seiner Malerei hat Alfred Lehmann schon lange gefunden:
Mensch und Natur "an sich" – zeitlos betrachtet, jenseits konkreter
historischer Gegebenheiten. Und diesen Gegenständen bleibt Lehmann nach wie vor
treu.
Wie aber kann Kunst einer solch komplexen Thematik gerecht werden? Der Antwort
versucht Lehmann durch sein kreatives Handeln auf die Spur zu kommen.
Die Figurenbilder
Bei den Figurenbildern ist eine Tendenz zu weiterer Abstraktion
erkennbar.
Bereits die "Gruppe mit blauem Stein" von 1959 bietet zwei ganz
unterschiedliche Betrachtungsmöglichkeiten an. Man kann fünf Menschen sehen,
die sich in der Natur zusammengefunden haben: Die Figuren sind durch
einheitliche Farbgebung klar hervorgehoben, das Grün deutet Bäume und Sträucher
an, eine gewisse Räumlichkeit ist vorhanden. Das Gemälde lässt sich aber mit
gleichem Recht als spannende Farbkomposition interpretieren: Das dominante
Rosa-Lila hat mit naturgetreuer Natur ebenso wenig zu tun wie das Blau des
Steins. Genau diese Art der Abstraktion wird in vielen späteren Bildern
weiterentwickelt. Die "Gruppe in Baumlandschaft" von 1960 verzichtet bereits
völlig auf räumliche Wirkung. Ein Horizont ist nicht einmal angedeutet. Die
abstrakte Farbigkeit greift auch auf die Figuren über. Häufig tragen die Bilder
dieser Schaffensperiode auch abstrakte Titel: "Aktion in Blau und Grün",
"Dreiergruppe Rot – Grün – Ocker", "Rhythmische Vierergruppe" oder einfach nur
"Figurenkomposition".
Das Bild "Voranschreitender – Primus inter Pares" bringt neben der Abstraktion
zwei weitere Aspekte ins Spiel. Expressivität und Handlung – durch kraftvolle
rote Farbflächen und die energisch einherschreitende Figur auf der rechten
Seite des Bildes.
Die Landschaften
Die Landschaftsbilder Alfred Lehmanns bleiben durch die zahlreichen Aufenthalte
des Künstlers im Mittelmeerraum geprägt: Helle Farben herrschen vor und finden
selbst in die Darstellung "nördlicher" Szenerien Eingang. Insgesamt sind die
Landschaftsbilder kleinteiliger aufgebaut als die Figurenbilder. Sie nutzen
eine breitere Farbpalette. Und auch bei ihnen zeigt sich die Tendenz zu
größerer Abstraktion. Die Farben gehen in ihrer Intensität weit über die
"Vorgaben" der Natur hinaus. Natur wird nicht imitiert, sondern mit leuchtenden
Farben zelebriert: "Landschaft als Ausdruck und Fest" – so formuliert es Adolf
Smitmans in der großen Alfred-Lehmann-Monografie von 1999. Und die Bäume in
Bildern wie "Pinienwald am Morgen – Cala San Vicente" von 1974 lassen fast an
die Figuren in Lehmanns Existenzbildern denken.
Auch Versuche kompletter Abstraktion gibt es im Spätwerk Alfred Lehmanns. Doch
bleiben Gemälde wie "Abstrakte Komposition mit Kadmiumcitron" oder
"Farbbewegung – Landschaft" (beide von 1961) eher Ausnahmeerscheinungen.
Die letzten Lebensjahre
Bei den Gemälden der letzten Lebensjahre Alfred Lehmanns verlieren die
Figurenbilder ihre dominante Stellung. Die Landschaftsmalerei tritt in den
Vordergrund. Zahlreiche Waldbilder entstehen. Dazu Akte und Stillleben – oft
mit melancholischer Grundstimmung ("Welke Rosen", "Verblühende Rosen"...).
Darüber hinaus wendet sich Alfred Lehmann seiner eigenen Person zu und malt
allein in seinen letzten drei Lebensjahren sechs Selbstbildnisse.
Am 30. Dezember 1979 stirbt Alfred Lehmann in Stuttgart. Er hinterlässt ein
reiches Werk, das stets von einem Ziel geprägt war: Das Ganze der Existenz
durch die Kunst erlebbar zu machen. So schreibt Lehmann im Jahr 1977:
"Ich diene in einem großen, mir selbst nicht durchschaubaren Zusammenhang und
habe Ehrfurcht. Der Gott mag bekannt und benennbar sein, oder er ist verborgen,
doch zu fühlen."